In den drei Jahren, die ich als freiberufliche Lektorin arbeite, habe ich viele Autor:innen kennengelernt, die ihrem Schreibtalent recht skeptisch gegenüberstehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man schon seit 15 Jahren schreibt und x Bücher erfolgreich veröffentlicht hat, ob man weiblich oder männlich ist. Unsicherheit betrifft jeden von uns.
Womit ihr am meisten kämpft, ist die Frage: Bin ich schon so weit? Bin ich schon so weit für ein Lektorat, oder sollte ich nicht lieber selbst noch eine Weile am Manuskript tüfteln? Bin ich schon so weit, mein Buch zu veröffentlichen, oder wäre es nicht doch besser, es klammheimlich in der Schublade verschwinden und das mit der Schreiberei bleiben zu lassen? Die alles entscheidende Angst lässt sich auf vier simple Worte herunterbrechen:
Noch nicht gut genug.
Noch nicht gut genug, um von irgendwem gelesen zu werden.
Noch nicht gut genug, um einem Verlag geschickt zu werden.
Noch nicht gut genug, um lektoriert zu werden.
Noch nicht gut genug, um veröffentlicht zu werden.
Noch nicht gut genug, um 5-Sterne-Rezensionen zu erhalten.
Das eigentliche Problem ist nicht der Aspekt „nicht gut genug“, denn sind wir mal ehrlich: Wer von uns hat schon an jedem Tag das Gefühl, ausreichend getan zu haben und zu sein? Das Problem ist dieses böse Wörtchen „noch“. Es schwindelt dir vor, dass du nie fertig bist, denn es gibt ständig etwas, das noch erledigt werden muss. Wenn du so weitermachst, hast du deinen Roman mit 90 noch nicht veröffentlicht.😉
Der eigene Perfektionismus sitzt fast allen im Nacken, und so stellt die Frage danach, wann ein Roman als “fertig” betrachtet werden kann, viele Autor:innen vor eine echte Herausforderung. Die Wahrheit ist: Niemand kann sie dir beantworten, auch kein Lektor oder Verlag. Ein Buch ist kein technischer Gebrauchsgegenstand, der entweder funktioniert oder eben nicht. Ob es begeistern und mitreißen kann, liegt allein im Auge des Betrachters … äh, Lesers. Und darauf hast du nur begrenzt Einfluss.
Ein Roman ist kein Gebrauchsgegenstand, sondern ein Kunstwerk. Er wird nie 100 % fertig sein, denn er lässt sich beliebig verändern. Aber es gibt einen Punkt, ab dem du dein Buch nur noch verschlimmbessern kannst – diesen solltest du erkennen und es dann gut sein lassen.
Aber woher weißt du, wann es Zeit ist, es gut sein zu lassen? Um dir diese Einschätzung zu erleichtern, sind hier 7 Anzeichen, dass dein Roman fertig und bereit für die Veröffentlichung ist:
1. Vollständige und in sich stimmige Handlung
Alle wichtigen Handlungsstränge sind am Ende abgeschlossen und ergeben eine für deine Leser:innen sinnvolle Auflösung. Die wichtigsten Fragen wurden beantwortet, und der Schluss schenkt einem ein Gefühl von Befriedigung. Das bedeutet: Es gibt einen logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen und jedes Ereignis trägt zur Entwicklung der Geschichte bei. Durch den Verlauf wird der Leser gefesselt, denn Spannung, unvorhergesehene Wendungen und Konflikte machen Lust darauf, weiterzulesen.
2. Charakterentwicklung
Die Entwicklung der Figuren ist ein wesentlicher Bestandteil des Romans, da sie die Handlung für die Leser:innen überhaupt erst miterlebbar machen. Umso wichtiger ist es, dass ihre Entwicklung, die durch Geschehnisse, Begegnungen und Konflikte getriggert wird, in einem nachvollziehbaren Tempo geschieht. Deutliche Anzeichen für eine klare Charakterentwicklung sind:
Die Motivation der Figur (Ziele und Sehnsüchte) verändert sich im Lauf der Handlung.
Die Figur überwindet letztendlich Hindernisse, die sie zu Anfang der Geschichte noch blockierten.
Die Figur durchlebt innere Konflikte und schließlich Selbsterkenntnisse, die sie zu dem Menschen machen, der sie eigentlich ist (ihr wahres Selbst).
3. Sprachliche Qualität
Du erkennst, dass dein Roman von hoher sprachlicher Qualität ist, wenn der Erzählstil flüssig und gut lesbar ist, also ohne abrupte Sprünge und holprige Passagen auskommt. Du spielst in ausgewogenem Maß mit Metaphern, bildhafter Sprache, prägnanten Beschreibungen und lebendig geschriebenen Dialogen (kein sagte/fragte/sagte/fragte). Eine Variation an unterschiedlichen Stilelementen (= ein flüssiger Schreibstil) macht es dem Leser leicht, in deine Geschichte einzutauchen und sich darin zu verlieren. Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung sollten natürlich auch korrekt sein.😉
4. Überarbeitung
Du hast deinen Roman bereits 2-3x überarbeitet und dabei Schwachstellen behoben, den Schreibstil verbessert und unnötige Passagen entfernt. Außerdem hast du ihn Beta- bzw. Testleser:innen anvertraut und ihr Feedback berücksichtigt.
Achtung: Genau JETZT solltest du aufhören, das Buch im Alleingang zu verbessern. Wenn es um das eigene Werk geht, ist man versucht, auch noch eine vierte, fünfte und sechste Überarbeitungsrunde vorzunehmen, denn man könnte ja etwas übersehen haben. Es gibt immer etwas, das noch nicht vollkommen rund ist. Aber solange du deinem Perfektionismus nachgibst, trittst du auch gleichzeitig auf der Stelle. Perfektionismus bremst dich in deiner Kreativität und bestätigt dich in deiner Angst, noch nicht bereit für die Öffentlichkeit und damit die Meinung anderer zu sein. Es ist also ratsam, es bei 90, 95 oder 97 % Vollkommenheit gut sein zu lassen, als seinen Roman niemals zu veröffentlichen – denn wofür hat man sich sonst die viele Arbeit gemacht?
5. Emotionale Resonanz
Der Roman konnte deine Beta- und Testleser:innen berühren, z. B. weil sie mit den Figuren und ihren individuellen Problemen mitgefiebert und mitgelitten haben. Wenn eine Figur nahbar, sympathisch und ihre Denk- und Handlungsweise nachvollziehbar wirken, können sich Leser:innen leichter mit ihr identifizieren und empfinden Mitgefühl, Freude, Spannung oder Trauer. Eine emotionale Bindung zu den Charakteren deines Romans ist wichtig, damit man als Leser:in einen Zugang zur Geschichte bekommt und es einen kümmert, wie es mit den Figuren weitergeht. Löst die Geschichte hingegen lediglich Gleichgültigkeit bei deinen Leser:innen aus, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass du es nicht geschafft hast, eine emotionale Verbindung zwischen den Charakteren und deiner Zielgruppe zu kreieren.
6. Erfüllung der eigenen Vision
Nachdem du dir ganz viele Meinungen von außen angehört hast, ist es genauso wichtig, in dich selbst hineinzuspüren: Spiegelt der Roman deine ursprüngliche Vision wider oder übertrifft sie sogar? Fühlt er sich nach dir an? Hast du es geschafft, die Botschaft unterzubringen, die dir von Beginn an am Herzen lag? Spürst du, dass du alles gesagt hast? Im besten Fall fühlst du mehr Zufriedenheit und Stolz auf dein Werk als Verunsicherung. Letzteres stellt sich meist erst ein, wenn man der Gedankenspirale zum Opfer fällt oder sich zwischen den vielen Erfolgsgeschichten der Autor:innen auf Instagram nur wie ein kleines Lichtlein vorkommt. Entscheidend ist das allererste Gefühl, das aus dem Unterbewusstsein kommt, nicht das nagende Gefühl der Furcht, das sich mit zunehmender Vergleicheristis einstellt. Also: Was fühlst du tief in dir drin? 🌸
7. Beratung von Fachleuten
Endgültig fertig ist dein Herzensprojekt erst, wenn du es nicht vollkommen im Alleingang erschaffen hast, sondern dir professionelle Hilfe mit ins Boot geholt hast. Das behaupte ich nicht, weil ich als Lektorin Geld verdienen möchte 🤑, sondern weil niemand von uns ein Genie auf allen Gebieten ist. Manche plotten gern, tun sich aber beim tatsächlichen Schreiben schwer. Manche konstruieren wunderschön beschriebene Landschaften, schaffen es aber nicht, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Sobald man erkennt, dass man nicht alles allein hinkriegen muss, sondern sich Hilfe von außen suchen darf und sollte, hebt man die Grenzen dessen auf, was möglich ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn du die richtigen Leute kennst (professionelle Lektor:innen, Literaturagent:innen, Cover-Designer:innen und Setzer:innen), trägt ihre Arbeit dazu bei, den Wert deines Romans immer weiter zu steigern und so auf eine erfolgreiche Veröffentlichung vorzubereiten.
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